Offene Gespräche über ein Tabu
Selbstkritische Kirchen eröffnen in Schwabach die „ WOCHE FÜR DAS LEBEN“ mit dem Thema „Suizide vermeiden“.
VON WOLFRAM GÖLL, Schwabacher Tagblatt vom 8. Mai 2019
SCHWABACH. Der Kampf gegen Selbsttötungen, Vorbeugung, Gesprächs- und Hilfsangebote, „niederschwellige Seelsorge“, aber auch Trauerbegleitung
für die Hinterbliebenen: Diese Themen stehen im Mittelpunkt der ökumenischen „Woche für das Leben“, die für den evangelischen Kirchenkreis
Nürnberg und das katholische Bistum Eichstätt mit einem festlichen Gottesdienst in Schwabach eröffnet wurde. Unter dem Motto „Leben schützen, Menschen begleiten, Suizide verhindern“ war unter anderem viel kirchliche und politische Prominenz in die voll besetzte Stadtkirche gekommen.
Der Eichstätter Bischof Gregor Maria Hanke OSB, die Nürnberger Regionalbischöfin Elisabeth Hann von Weyern, Dekan Klaus Stiegler als Gastgeber und Stadtpfarrer Robert Schrollinger feierten gemeinsam den Eröffnungsgottesdienst. Landtagsvizepräsident Karl Freller, Oberbürgermeister Matthias Thürauf (beide CSU) und die stellvertretende Rother Landrätin Hannedore Nowotny (SPD) sprachen Grußworte. Mehrere Initiativen boten Einblick in ihre Arbeit und standen für Gespräche zur Verfügung.
„Kirchen haben sich versündigt“
Selbsttötungen wurden über Jahrhunderte religiös und gesellschaftlich tabuisiert und Betroffene stigmatisiert, wie die evangelische Regionalbischöfin Elisabeth Hann von Weyern selbstkritisch anmerkte: „Die Kirchen haben beigetragen zur Stigmatisierung von Selbsttötungen. Bis in die 1970er Jahre wurden Selbstmörder
nicht auf Friedhöfen begraben, sondern außerhalb oder bestenfalls am Rand.“ Die Kirchen hätten sich dadurch selbst an den Betroffenen und Hinterbliebenen „versündigt“, so Hann von Weyhern. Weder Selbstmord noch Freitod Bereits die Bezeichnung der Selbsttötung bereitet Probleme. Offiziell wird meist das Fremdwort „Suizid“ verwendet. Wie die Regionalbischöfin ausführte, hätten die beiden weiteren Begriffe „Selbstmord“ und „Freitod“ jeweils unzutreffende Nebenbedeutungen:
Der Begriff „Selbstmord“ stigmatisiere und hänge „einem zutiefst verzweifelten Menschen, der sich das Leben genommen hat, nachträglich einen Mord an“. Der Begriff „Freitod“ hingegen idealisiere in unzulässiger Weise: „Als ob die tiefste Verzweiflung eines Menschen irgendetwas mit Freiheit zu tun hätte“, so die Regionalbischöfin.
Sie selbst habe ihre beste Freundin durch eine Selbsttötung verloren, berichtete Hann von Weyhern. Suizide stürzten Hinterbliebene, Angehörige und Freunde nicht nur in Trauer, sondern auch in tiefe Selbstzweifel und Selbstanklagen. Viele Betroffene werfe die Selbsttötung eines nahestehenden Menschen selbst aus der Bahn. Umso wichtiger seien die vorbeugenden Angebote für Menschen in Lebenskrisen, aber auch die Notfallseelsorge sowie die Initiativen von und für Hinterbliebene. „Ich erwarte mir von der Woche für das Leben, dass diese wertvollen Hilfsangebote bekannter werden“, sagte die Regionalbischöfin.
„Es braucht Boten des Lebens, die den seelisch Leidenden wahrnehmen und die in der Lage sind, Türen zu öffnen, durch die Licht in das Dunkel des Lebens fällt“, wünschte sich der katholische Eichstätter Bischof Gregor Maria Hanke in seiner Predigt. Er lobte alle Helfer und Unterstützer aus kirchlichen und privaten Initiativen, „die für die Betroffenenda sind“. Er nannte sie „Förderer des Lebens, gesandt in die Dunkelkammern des Lebens, in denen die Versuchung aufkommt, das eigene Leben zu beenden“. Jede Stunde ein Suizid Statistisch geschehe alle 56 Minuten eine Selbsttötung in Deutschland. „Also nimmt sich gerade jetzt, während wir hier gemeinsam Gottesdienst feiern, ein Mensch irgendwo in Deutschland das Leben. Das muss uns auf den Plan rufen“, forderte Hanke. Zur Verdeutlichung stellte er zwei Zahlen einander gegenüber: Etwa 3000 Menschen sterben pro Jahr in Deutschland durch Verkehrsunfälle – mit der Folge, dass sich Politik, Experten und Behörden zu Recht um die stetige Verbesserung der Verkehrssicherheit bemühten. Dann müsse aber auch die schlimme Tatsache, dass 10000 Menschen in
Deutschland pro Jahr durch Selbsttötungen sterben, die Gesellschaft ebenso stark erschüttern und aktiv werden lassen. Doch die hohe Zahl an Suiziden würde weitgehend ignoriert, ebenso deren Vorgeschichte.
Trauma für Angehörige
„Vor einem Suizid lag oft ein langer Weg der inneren Einsamkeit. Der Ruf nach Hilfe wurde oft in der Umgebung nicht wahrgenommen“, so Bischof Hanke. „Das Leiden findet in der Welt der ökonomischen Perfektion wenig Raum. Es ist etwas, was beseitigt gehört, was nicht stattfinden darf. In der Welt der ökonomischen
Perfektion ist wenig Raum für Schwächen“, kritisierte der Bischof.
„Ein Suizid verwundet auch das Leben der Angehörigen tief, die selbst nicht wissen, wie sie danach noch weiterleben sollen.“
Landtagsvizepräsident Karl Freller erzählte von dem traumatischen Erlebnis, als sich ein Klassenkamerad mit 16 Jahren wegen Liebeskummer in Limbach vor einen Zug geworfen hatte. Vor diesem Hintergrund lobte Freller die ehrenamtlichen Helfer als „Licht am Ende des Tunnels“ für viele Betroffene.
OB Matthias Thürauf sagte, nagende Ungewissheit und bohrende Zweifel befielen stets Freunde, Angehörige und Arbeitskollegen, wenn sich jemand das Leben genommen habe: „Hätte ich ihn ansprechen können, hätte irgendwer helfen können?“
Die stellvertretende Landrätin Hannedore Nowotny betonte: „Ich wünsche mir, dass wir alle an dieser Stelle ein Stück sensibler werden.“
Kammersteins evangelische Pfarrer Stefan Merz, der mit dem katholischen Diakon Alois Vieracker (St. Sebald) die Notfallseelsorge vertrat, sagte: „Wir haben Zeit zum Zuhören.“
Hilfsangebote
Außerdem informierten folgende Gruppen über ihre Arbeit: „Angehörige um Suizid“ (AGUS) aus Nürnberg mit Barbara Mühlberger, die Telefonseelsorge Ingolstadt mit ihrem Leiter Hans Iberl, der Sozialpsychiatrische Dienst der AWO mit Beate Hoose, die evangelische Schulseelsorge mit Stefanie Betz sowie die Initiative „Notfallselsorge in Schulen“ (NOSIS) mit Walter Merdes an der Spitze.
(Foto: Wolfram Göll)